Alarmzustand

So hat sie Europa nicht in Erinnerung. Sie wollte zurück in das Leben, das sie vor Jahren als Studierende in Paris führte; ein Leben ohne Angst, ohne Gewalt, ohne Rechtlosigkeit. 

Jetzt ist sie zurück in Europa und sie nehmen ihr das Kind weg, einfach so.

1560 Wörter - Lesedauer etwa neun Minuten

Bintou

Der Weg über den Ozean war riskant für Bintou und ihren einjährigen Sohn Sindo. Die ganze Familie hat gesammelt für die Überfahrt, weil ihre Eltern und die Brüder endlich verstanden hatten, dass Bintou nach ihrer Rückkehr aus Frankreich eine andere war. Sie konnte in der afrikanischen Heimat nicht mehr glücklich werden, denn Sie denkt jetzt europäisch. Europa aber will sie nicht mehr.

 

So blieb nur der Weg über den Ozean, in einem Schlauchboot, das sie und ihr kleiner Sindo mit 28 weiteren Flüchtlingen teilen. 

 

Die Reise beginnt an einem Tropenstrand im Senegal. Nach zwei Tagen auf See geht der Motor aus, er bleibt stumm für den Rest der Reise. Drei Tage später stirbt ein Mitreisender; sie lassen ihn in der Nacht lautlos ins dunkle Wasser gleiten.

 

18 Seemeilen südwestlich von Gran Canaria sichtet die spanische Küstenwache am nächsten Morgen ein Schlauchboot. Sie ziehen 29 afrikanische Flüchtlinge aus dem Atlantik und bringen sie in die kleine Hafenstadt Arguineguín.

 

Bintou ist glücklich. Endlich sind sie wieder auf festem Boden. Auch wenn es für die ersten Tage nur der nackte Beton der Hafenmole ist. 

Es ist Pandemie in der Welt und Alarmzustand in Spanien. Ohne Quarantäne und Test kommt niemand ins Land.

Aber es ist europäischer Boden, auf dem sie schlafen. Nur das zählt für Bintou. 

 

Dann, nach allem, entreißen sie ihr den kleinen Sindo; mit Gewalt, weil sie nicht begreift, was vor sich geht. Erst später erfährt sie, dass sie im Verdacht steht, eine Kinderhändlerin zu sein. Nur ein DNA-Test schaffe Klarheit und beweise ihre Mutterschaft. Das Ergebnis brauche Zeit. 

Bis dahin müssten Kind und vermeintliche Mutter getrennt sein, aus Sicherheitsgründen, wie man ihr sagt. Man werde sich gut um das Kind kümmern. In zwei, vielleicht drei Wochen sei alles geklärt. Sie werde schon sehen.

 

Europa hat sich verändert.

 

Marisol

Es ist 7 Uhr am Morgen. Normalerweise beginnt für Marisol um diese Zeit die Schicht im Hotel. Jetzt aber ist nicht Normal, jetzt ist Pandemie.

Reportage Leseprobe Online: Journalist, Autor, Texter. Foto: Guido Gottfried
Pandemie

Die Touristen sind in ihre Heimatländer geflüchtet; niemand braucht jetzt Zimmermädchen.

Alle bleiben nach Möglichkeit zu Hause, man vermeidet Kontakte. 

Zu Hause ist für Marisol jetzt die Wohnung der Eltern. Nach 50 Tagen absoluter Ausgangssperre suchte sie mit ihren zwei Kindern Schutz vor der Gewalt des Ehemannes. Viele Frauen flüchten in dieser Zeit vor dem, was sie hier "Machismo" nennen.

 

Mit ihrem Kurzarbeitergeld und der Rente der Eltern funktioniert das Leben, mehr nicht.

Wenn in der kleinen Wohnung die Luft wieder dick ist, flüchtet Marisol in den Süden, zu ihrem Hotel. Das ist möglich, seit die Busse wieder fahren. Oft zieht es sie dorthin, wo sie glücklich war. 

Sie vermisst das alte Leben: die Struktur des Tages, den Tratsch mit den Kolleginnen am Morgen auf dem Weg zur Arbeit, die Gäste in Urlaubsstimmung, ihr Einkommen, die Wertschätzung.

 

Jetzt herrscht Maskenpflicht im Bus, die wenigen Fahrgäste bleiben stumm und auf Abstand. Dann steht sie um 7 Uhr vor ihrem Hotel. Das Tor ist verschlossen.

 

Auf den Balkonen sieht sie junge Männer aus Afrika. Wäsche hängt zum Trocknen über die Balkongeländer aus Glas und Edelstahl. Das hätte es früher nicht gegeben, als Marisol hier noch gearbeitet hat.

 

Jamal

Die Männer auf den Balkonen rauchen und warten, warten und rauchen. Worauf sie warten, wissen sie nicht. Vielleicht, dass es irgendwie weitergeht; vielleicht, dass ein Bus kommt und sie abholt. Niemand redet mit ihnen, weil niemand weiß, wie es weitergeht.

 

Unter den Wartenden ist Jamal. Er kommt aus Tiznit im Süden Marokkos. Das Ende seiner Reise hat er sich anders vorgestellt. Seinen großen Bruder in Marseille wollte er besuchen, dort ein paar Euros auf dem Bau verdienen. Das hatte Jamal schon früher gemacht. Aber jetzt ist Pandemie, auch in Marokko. Keine Fähre legt ab, kein Flugzeug startet Richtung Europa. 

 

Ein paar Kumpels kam die Idee, mit einem organisierten Boot rüber zu machen nach Fuerteventura. Das sei in wenigen Stunden zu schaffen, so dachten sie. Von dort könne man das Flugzeug für die Weiterreise nehmen.

Jamal hat Papiere, der große Bruder schickte Euros aus Frankreich. 

 

Nach Einbruch der Dunkelheit schieben fünf Freunde ein kleines Fischerboot in den Atlantik. Als die Sonne aufgeht, ist noch immer kein Land in Sicht. Auf seinem Smartphone erkennt Jamal, dass sie längst an Fuerteventura vorbei sind. Dann soll es eben die nächste Insel sein - Gran Canaria. Umso besser, denn der Flughafen dort ist größer. Da müsste es noch mehr Flugverbindungen nach Europa geben.

 

Es wird wieder Nacht auf See. Sie entdecken am Horizont die Lichter von Maspalomas. Trotz nächtlicher Ausgangssperre simulieren gigantische Scheinwerfer am Strand von El Inglés ein normales Leben. So als hätte jemand absichtlich das Licht angelassen, um den Flüchtlingen den Weg zu weisen.

Reportage Alarmzustand. Leseprobe Online: Journalist, Autor, Texter. Foto: Guido Gottfried
Flüchtlingsboote in Arinaga

Jamal hat wieder Netz und postet noch vom Boot aus die Fotos der Überfahrt auf Facebook.

Die Freunde machen Pläne: Erst einmal irgendwo etwas essen und dann mit dem Taxi zum Flughafen.

Noch bevor sie den Strand erreichen, werden sie von einem Schiff der Küstenwache abgefangen und in den Hafen von Arguineguin gebracht. Dort verbringen sie einige Tage unter freiem Himmel auf dem nackten Beton der Hafenmole.

Schließlich ist bewiesen, dass sie den Virus nicht in sich tragen. Drei Busse fahren vor und bringen sie in ein Hotel. 

 

Hilde

Das Hotel hat selbstbewusst die Moden der Zeit ignoriert. Hier ist alles noch Original, kein Retro. Im dunklen Foyer werden Gäste von massiven Möbeln, Ritterrüstungen und Kanonen empfangen, ganz so als befände man sich in einer Burg. In den schweren Vorhängen und Teppichen steckt der Kantinengeruch von Jahrzehnten. Seit Monaten gibt es keine Gäste, die sich über diesen Mief wundern könnten. Das Hotel hat geschlossen. Die Angestellten bleiben zu Hause. Nur der Hausmeister schaut gelegentlich nach dem Rechten. 

 

Aber das Hotel ist nicht leer: Etwa ein halbes Dutzend Menschen wandelt über die verlassenen Flure. Es sind gestrandete Seelen, die einst Appartements in diesem Hotel kauften und jetzt aus Furcht vor dem Virus hinter den Burgmauern Schutz suchen. Einige von ihnen hatten zu lange gezögert, um in die Heimat zu fliehen; andere sind heimatlos.

 

Eine von ihnen ist Hilde. Sie lebt allein, jetzt auch einsam. Es gibt für sie keinen anderen Ort, an dem sie bleiben könnte.

Die Kinder haben die Wohnung in Lüdenscheid übernommen, für Hilde ist da nur noch Meldeadresse. Sie hat für die warmen Tage einen Wohnwagen auf einem Stellplatz im Sauerland. Im letzten Sommer war schon Pandemie.

Vier Stunden im Flugzeug, den Virus im Gepäck; das kann sie nicht riskieren. Mit ihrem Diabetes gehört Hilde zur Risikogruppe. 

Sie sitzt das hier aus; hoffentlich reichen die Medikamente.

 

Ihr Rolf hat immer von diesem Leben geträumt, seit sie in den Achtzigern das erste Mal auf der Insel waren, damals noch in Begleitung von Neckermann: Flug, Vollpension, Transfer und ein Begrüßungscocktail inklusive.

Dann kam die Rente und sie kauften ihre eigene kleine Ferienwohnung.

Im ersten Jahr kamen sie bereits im Oktober und wollten bis Ostern bleiben. Weihnachten war Rolf schon fort, denn am Nikolaustag ist er nicht mehr aufgewacht. Seitdem lebt Hilde seinen Traum.

 

Ihr Leben, das war in den letzten Jahren fast jeden Abend die Fankneipe des 1. FC Köln, gleich um die Ecke. Gelegentlich ein Abendessen bei Luigi, immer mit Seniorenteller und einem Radler. Die Strecke hat sie mit ihrem Rollator noch gut geschafft. Ein bis zwei Mal die Woche war sie zusammen mit Gertrud und Helga zum Einkaufen, denn Helga hat ein Auto. Am Strand war sie schon viele Jahre nicht.

 

Gertrud und Helga sind in Deutschland, seit der spanische Premierminister Pedro Sánchez im März den Alarmzustand ausgerufen hatte. Die Fankneipe ist geschlossen. Was ihr bleibt, ist ihre eigene Welt auf 26 Quadratmetern mit Balkon, sechs deutschsprachigen Satellitensendern und dem Telefon. Sie hat einen Schlüssel für den Hinterausgang der Hotelburg, aber sie geht nicht vor die Tür, denn sie schafft die Treppe nicht mehr. Der enge Fahrstuhl macht ihr Angst; der könnte steckenbleiben und niemand würde kommen. Ein Nachbar aus dem vierten Stock stellt ihr Einkäufe vor die Tür, klingelt und verschwindet. Es ist besser, wenn man Kontakte meidet. Sicher ist sicher.

 

Jetzt ist Dezember und es kommt plötzlich wieder Leben ins Hotel. Drei Busse fahren vor. Junge Männer stürmen die Burg aus Glas und Beton. Auf den Fluren wird es laut, Türen knallen. Durch die Fenster zieht Zigarettenrauch in die Wohnung. Über den Balkon und durch die Wände dringen Stimmen in einer fremden Sprache - in Hildes kleine Welt.

 

Keiner hat sie informiert, dass die Flüchtlinge kommen. Vielleicht hat man es einfach vergessen, vielleicht hat man Hilde einfach vergessen.

Endlich, nach drei Tagen erklärt sich der stets charmante Hoteldirektor am Telefon: Man sei dringend auf die Einnahmen angewiesen. Der Staat übernehme die Rechnung für die Gäste aus Marokko. Es sei auch nur vorübergehend. In zwei, vielleicht drei Wochen sei alles vorbei. Sie werde schon sehen. Alle müssen jetzt Opfer bringen. 

Es herrscht Alarmzustand in Spanien.

Vom 1. Januar 2020 bis 30. Juni 2021 verloren 4257 Menschen ihr Leben auf dem Atlantischen Ozean. Diese Menschen versuchten Spanien von Afrika aus auf dem Seeweg zu erreichen. 3773 von ihnen nutzten die gefährliche „Ruta Canaria“. 96 Kinder und 341 Frauen starben allein im ersten Halbjahr 2021 bei dieser menschlichen Tragödie.

Dieser Text ist den Opfern gewidmet, die von uns im Schatten der Pandemie kaum zur Kenntnis genommen wurden.


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